2002 DEUTSCHER MEISTERFußball Alternativ: The day after
Man wird ja nicht jünger. Also rechnet man im hohen Alter nur noch mit dem Notwendigsten. Man fährt also nach Berlin-Ost zur Deutschen Meisterschaft der Alternativfußballer, um wenigstens nicht so viel schlechter als im Vorjahr abzuschneiden. Da sprang Platz 6 heraus, ein Erfolg, der so manchem Roten Stern fast den Herzstillstand brachte. Und dann ist es später Nachmittag Pfingstsonntag, und plötzlich hat Bremen wieder einen Deutschen Fußballmeister. Alle Roten Sterne fahren Pfingstmontag nach Hause, sind wie nie zuvor gut gelaunt und zeigen ein lang vermißtes hanseatisches Grinsen und kriegen sich kaum wieder ein, und dann das: in der Hansestadt atemloser Stillstand. Nichts, was sich geändert hätte. Der Rathaus-Balkon ist verhüllt, der Marktplatz aufgerissen und im Weser-Stadion bahnt sich ein neuer Skandal an.
Seit 1985 gibt es dieses sagenumwobene Fußballturnier DAM, Deutsche Alternative Fußballmeisterschaft. Das Dumme ist nur: es gibt keine sportlichen Qualifikationsregeln für die Teilnahme. Wilde oder Bunte Fußballligen gibt es außer in Bremen auch in vielen anderen Städten. Die Meister dieser Ligen sind aber selten auf der DAM zu finden. Über den sportlichen Wert des Titels „Deutscher Alternativ-Fußballmeister“ lässt sich streiten. Nicht über das Turnier selbst. Auf der DAM treffen Teams der ersten Stunde wie Partisan Eifelstrasse Aachen oder Dynamo Windrad Kassel auf die Rote Beete Hamburg, die Balltänzer aus Bielefeld auf Betong Union Köln oder auf die Begnadigten Körper Alhambra (BKA) Oldenburg. Voraussetzung: alle genannten Teams haben die übliche Bewerbungsqualifikation überstanden. Ob Video, Gesangseinlage, ob Heimatfilm oder Kulinarisches: nur 24 Teams haben die Chance, ebensoviele werden vertröstet. Da wird schon mal ein dreimaliger Titelträger ausgeladen wegen „übermäßiger sportlicher Dominanz“. Die Alternativ-Snobs der Kölner Petermänner fielen im Vorjahr ihrer Arroganz (Hotelschläfer) zum Opfer,
Seit 1975 besteht der Rote Stern, und weil Bremen ein Dorf ist, kennt man die Veteranen aus Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung, aus dem Kinderladen oder der Schule, aus der WG, aus einer Beziehung, als Rechtsanwalt oder als Lehrer. Als Fußballspieler sind sie in ihrer Szene wohlbekannt. Auch ohne große Erfolge. Das Gründungsmitglied der Wilden Liga Bremen war schon viermal Vizemeister, aber Bremer Meister?
Was ist eigentlich alternativ an der DAM? Runde Bälle und eckige Tore, Gewinner ist, wer am Ende nach Toren führt - das ist im organisierten DFB-Vereinssport nicht anders. Es wird (fair) gegrätscht, gemeckert, es gibt Prellungen, sympathische Gegenspieler und Nervtypen, seit Jahren keine Frauen auf dem Platz und stundenlang wird um jede vermeintliche Fehlentscheidung gerungen. Was ist so anders bei diesem Turnier ? Sind es nur die Mannschaftsnamen wie Aus der Tiefe des Raumes oder Satanische Fersen? Ist eine linksradikale, alternative, grüne Vergangenheit Pflicht? Was unterscheidet die DAM von durchschnittlichen, bierträchtigen Kneipen- und Thekenturnieren ? Eines ist klar: spielen darf jeder, Ledistungsprinzipien gibt es (fast) nicht und Rassismus hat keine Chance.
Auf dem Weg ins Endspiel schlugen die Bremer den Vorjahresmeister Piranhas Regensburg, den Veranstalter Rote Hosen Ostberlin und den Bremer Wilde-Liga-Erzrivalen Stahl Eisen, und im Endspiel hieß der Gegner Petermann Köln. Diese waren ganz unökologisch per Flugzeug angereist und mußten ob des Endspiels den Rückflug um einen Tag stornieren. Es half freilich nicht. Das Spiel ist zu Ende, wenn der Schiedsrichter pfeift. Und der liess den Schlusspfiff im Finale erst nach 4 1/2 Minuten Nachspielzeit ertönen, kurz nach dem Ausgleich der Roten Sterne. Verlängerung, Elfmeterschießen, und dann war die Sensation perfekt
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Fussball ist die schönste Nebensache der Welt. Bei der DAM aber gerät selbst dies noch in Gefahr. Das Endspiel ist nur noch Beiwerk. Höhepunkt ist die mehrstündige Siegerehrung. Alle Teams kommen abwechselnd auf die Bühne, um dort als Preise entweder den Damen-Slip, den Gladbachs Igor Belanov einst klaute, oder ein Stück Rasen aus biologischem Anbau zu bekommen. Wenn dann alle noch anfangen zu singen, dann berichtet auch schon mal das Fernsehen von „Stimmung wie in Woodstock, Kampfgeist wie in Brokdorf“.
Diesmal also die Roten Sterne. Nach 28 Jahren Roter Stern endlich Deutscher Meister. Stolz konnte der Pokal auf der Bühne des Festzeltes präsentiert werden: ein Einkaufskorb voller Ostprodukte. Einmal im Leben den Abend mit Zigarren, Schampus und Tänzen mit den schönsten Frauen der Gegenspieler verbringen – nein, Alternativfussball heisst genießen und ehren lassen, aber Sieger sind alle. Vom letzten bis zu ersten Platz.
Drei Tage herrscht Hochstimmung. Der Endspielschiris heißen Jens Todt oder Hansi Dorfner. Jede Nacht stehen die Teamchefs mehrfach auf und diskutieren im Festzelt die taktischen Varianten. Alternativfußballer können lange feiern, aber auf´m Platz ist auf´m Platz. Aufwärmübungen und mentale Vorbereitungen sind dem alternativen Kicker fremd. Jeder schießt unmotiviert rum, schlägt wie wild Flanken, um dann plötzlich, beim ersten Anstoß, förmlich zu explodieren. Am Abreisetag sind Zelt- und Sportplätze, ja selbst die Kabinen mülllos und geputzt. Alternativfussballer haben ein hohes Maß an Selbstorganisation. Die städtischen Platzwarte sind daher auch eher begeistert als unzufrieden. Die örtliche Presse kann den ganzen Rummel immer noch nicht richtig einordnen, derweil sind die Organisatoren total müde, aber glücklich.
Der noch amtierende Meister Rote Stern allerdings hatte zu kämpfen im Jahr 2002. Er bekam wieder satte Klatschen in der Wilden Liga und wurde nur Elfter, so schlecht wie nie zuvor. Nur eines bleibt bestehen: Der Meistertitel. Und weil der amtierende Meister die nächste DAM organisieren muß, freut sich alles auf Bremen 2003.
Michael „Pelle“ Pelster